Zusammenstoß politischer und religiöser Fundamentalismen. Chancen und
Gefahren einer weltweiten Krise
Große Krisen können große Wahrheiten offenlegen. Die Attentate vom 11.
September in den Vereinigten Staaten von Amerika haben eine Krise entfesselt, in
deren Verlauf auf dramatische Weise ein System aus Konservatismus, Militarismus
und Desinformation offengelegt wurde. Es zeigte sich, daß es etwas Verborgenes
hinter der lauthals angepriesenen neoliberalen Weltordnung gibt. Das unterstrich
gleichzeitig die These, daß »eine andere Welt möglich« – und man könnte
hinzufügen: notwendig – ist, so wie es demokratische und revolutionäre Kräfte
auf allen Kontinenten vertreten. Das Ende der Geschichte ist überwunden.
Die
erste Erkenntnis nach den Ereignissen von New York, Washington und Pennsylvania
muß sein, daß die »neue Weltordnung« keine solche ist. Die wirtschaftlichen
Ungleichheiten, die sozialen Ungerechtigkeiten, das Anwachsen reaktionärer und
religiöser Elemente, die Zunahme von Militarismus (insbesondere in Regionen wie
dem Mittleren Osten, Afrika und Zentralasien) und die hegemonistische und
imperiale Politik der USA und Großbritanniens und anderer Mächte waren und sind
Bestandteile der kapitalistischen und konservativen Welt. All das ist die Basis
der Ereignisse des 11. September.
Die Welt hat eine Bevölkerung von sechs
Milliarden Menschen. Viereinhalb Milliarden von ihnen leben in Armut. Ihnen
fehlen Lebensmittel, während die reichen Länder 74 Prozent des Verkaufs von
Getreide und allein die Vereinigten Staaten zwischen 50 und 80 Prozent des Mais-
und Soja-Marktes kontrollieren. Hunderte Millionen Menschen sind Analphabeten,
viele von ihnen Frauen, die von ultrareaktionären religiösen Regimen unterdrückt
werden. Die Hälfte der Kinder der Welt ist unterernährt; Milliarden Menschen
leiden unter dem Rassismus, der religiösen Unterdrückung und der ideologischen
Diskriminierung. Es gibt Länder wie Afghanistan, die auch nach dem Fall der
Taliban ein Beispiel all dieser Dinge sind.
Das zweite zu berücksichtigende
Element ist, daß speziell der Terrorismus, der die Täter des 11. September
motivierte, von den imperialen Mächten, insbesondere den Vereinigten Staaten,
erzeugt und gefördert wurde. Die von Osama bin Laden geführte Organisation Al
Qaida oder »Die Basis« – in einer der möglichen Übersetzungen – hatte ihren
Ursprung im Kampf gegen die sowjetischen Kräfte und in der Expansion des
rückschrittlichsten und konservativsten Islamismus. Diese Gruppe erreichte eine
Allianz mit Organen der Vereinigten Staaten wie der Central Intelligence Agency
(CIA) und dem State Department. Es gab private Verbindungen wie die
Erdölverhandlungen des Bush-Clans mit saudischen und ägyptischen
Verhandlungsführern, die zu Al Qaida gehörten, und die Verstrickungen
US-amerikanischer, europäischer Konzerne und eines argentinischen Unternehmens
in die Auseinander- setzungen um die Erdölausbeutung in Afghanistan und anderen
Ländern Zentralasiens. Dies erklärt zum Teil, warum viele der Männer der Al
Qaida sich in den Vereinigten Staaten, Deutschland, dem Vereinigten Königreich
frei bewegen konnten.
Eine dritte Erkenntnis gibt es zum Mythos der Effizienz
der US-Geheimdienste und ihrer scheinbaren inneren Sicherheit. Es ist noch nicht
lange her, daß die CIA und das FBI Unsummen von Haushaltsgeldern erhalten haben.
Dem liegt die starke Lobby dieser Strukturen im politischen System der USA
zugrunde. In der Folge sind Verbindungen zustande gekommen, die massiv
Korruption und Bürokratie befördert haben. Unterstützt wurde das von den
Industriezweigen, von denen die Technologien– etwa zur Gegenspionage – geliefert
werden. In den Vereinigten Staaten operieren heute trotzdem mehr als 600
gewalttätige Gruppen, die sich auf Thesen von der weißen Überlegenheit, des
Antikommunismus, des Ultranationalismus, des Rassismus und des Nazismus, des
religiösen Fundamentalismus, des orthodoxen Patriotismus usw. stützen. Zu ihnen
gehörten die Urheber der Ermordung zweier Polizisten im Capitol, des
Bombenanschlags auf ein öffentliches Gebäude in Oklahoma, des Massakers von
Waco. Nicht zu vergessen die Morde an den Brüdern Kennedy, die sich aus den
ultrarechten Tiefen des US-Systems entwickelten.
Viertens handelt es sich bei
der aktuellen Krise entgegen den Behauptungen rechter Intellektueller um eine
Konfrontation innerhalb des konservativen, fundamentalistischen oder
ultrareaktionären Lagers. Tatsächlich prallen ein ideologisch-politischer
Fundamentalismus, der sich in der rechtsextremen Präsidentschaft von George W.
Bush ausdrückt, und ein reaktionärer religiöser Fundamentalismus aufeinander.
Beide richten sich gegen unschuldige Menschen, greifen zum Terrorismus (der eine
mit dem Staatsterrorismus, der andere mit dem individuellen Terrorismus), haben
finanzielle Verbindungen zur Weltbank, üben Autoritarismus aus und führen
verdeckte Operationen durch.
Aus dem oben Gesagten ergibt sich ein fünfter
Faktor, über den sich vor allem die Lateinamerikaner Gedanken machen müssen. Es
ist die Aufteilung der Welt in diejenigen, die das Weiße Haus unterstützen, und
diejenigen, die gegen diese Politik opponieren. Eine Form dieses Aufrufs, sich
der Regierung der Vereinigten Staaten zu unterwerfen, kam von Bush mit der
primitiven Position, daß man entweder für ihn oder gegen ihn sei, entweder mit
dem Guten (dem Weißen Haus) oder dem Bösen (der Opposition).
Dies schafft
eine gefährliche Situation, denn man weiß, daß im Blickfeld der militärischen,
verdeckten, illegalen, kriegerischen, finanziellen und diplomatischen
Operationen der Vereinigten Staaten die gesamte demokratische und revolutionäre
Bewegung steht. Die aufständischen Bewegungen und Volksguerillas, die linken
Parteien, die antineoliberalen und antikapitalistischen Bewegungen, die
Organisationen zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte, die
demokratischen Kräfte der Jugend und der Studierenden, die aufständische
Bewegung der Indнgenas füllen die Liste derjenigen, die Washington zu seinen
Feinden oder eben zu Helfershelfern des »Terrorismus« erklärt. Der sogenannte
Antiterroreinsatz ist also tatsächlich eine Form der Aufstandsbekämpfung. Ein
Element dieser kriegerischen Sichtweise ist die Erarbeitung einer Liste von
Staaten und Organisationen, die als terroristisch qualifiziert werden, durch das
State Department. Auf dieser Liste, wollte man sie denn ernst nehmen, tauchte
Afghanistan niemals auf – jenes Land, auf dessen Boden Bush nun seine »Schlacht
gegen den Terrorismus« führt. Mehr noch, die Organisation Al Qaida – Die Basis,
die seit Jahren von dort aus operierte, wurde nie in diese Liste aufgenommen,
ebensowenig wie ihre Gastgeber.
Statt dessen findet sich auf der Liste aber
Kuba, einfach aufgrund der Tatsache, ein Land mit einem politisch-ökonomischen
Regime zu sein, das den Vereinigten Staaten nicht gefällt. Und obwohl die
kubanische Regierung vor den Vereinten Nationen Dutzende von Fällen des
Terrorismus angeklagt hat, die von US-Organen finanziert und durchgeführt
wurden. Es finden sich auf der US-Liste auch aufständische Bewegungen wie die
FARC-EP Kolumbiens, die eine Facette des Kampfes und eine Hoffnung des
kolumbianischen Volkes repräsentiert,
die Kontakte mit Dutzenden Regierungen
aus aller Welt und mit Hunderten nationalen und ausländischen Organisationen
hat, die Teil eines Friedensprozesses ist und deren Füh-rer sich sogar mit
Funktionären des US-State Departments getroffen haben.
Es ist in diesem
Zusammenhang der Krise die Existenz eines sechsten Faktors nicht zu leugnen: der
Kräfte, die überall auf der Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten, gegen
den Krieg und den Terrorismus, für den Frieden und die Gerechtigkeit
aufbegehren. Sogar der brasilianische Fußballstar Pelй sagte, daß es keinen
Frieden geben könne, wenn es keine soziale Gerechtigkeit gibt. Mehr als
hunderttausend US-Amerikaner demonstrierten in Dutzenden Städten gegen den
Krieg. Demonstrationen dieser Art gab es in europäischen, asiatischen,
lateinamerikanischen und afrikanischen Städten. Die Zahl der Intellektuellen,
die über die Notwendigkeit einer Veränderung der Lage der Dinge nachgedacht und
geschrieben haben, ist überraschend. Sie fordern ebenso wie soziale und
politische Bewegungen, daß die imperiale, interventionistische und kriegerische
Politik der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und anderer Mächte
geändert wird.
Man kann auch nicht einfach darüber hinweggehen, daß sich in
Zentralasien und speziell in Afghanistan eines der größten Erdölvorkommen der
Welt befindet und das Land zudem eine große strategische Bedeutung hat. Daß es
in dieser Region mindestens drei Nationen mit atomaren Fähigkeiten gibt und sich
zwei von ihnen, Pakistan und Indien, in einem historischen Konflikt um Kaschmir
gegenüberstehen und Spielball der Interessen der Mächtigen sind. Militärisch und
politisch bedeutet die Kontrolle über Afghanistan für US-Amerikaner und
Engländer einen strategischen Punkt aufgrund seiner Grenzlage zu islamischen
Republiken, zu China und zu den Operationsgebieten von Finanz- und
Erdölkonzernen und aufständischen religiösen Gruppen.
Es handelt sich ein
weiteres Mal um einen Krieg des Imperiums. Es ist ein weiteres Mal die Gewalt
gegen die Völker. Es handelt sich ein weiteres Mal um die imperiale Politik zum
Schutz der Hegemonie. Ein weiteres Mal wird die Цffentlichkeit mittels des
Medienapparates bewußt getäuscht.
Es ist Vorsicht geboten, denn auf diesem
Weg kommen Projekte wie
der Kolumbienplan, der Plan Puebla Panama und das
Amerikanische Freihandelsabkommen ALCA/FTAA zustande.
Die Menschheit
reagiert, die Völker der Welt sind nicht wehrlos, und die großen Krisen erzeugen
auch große Antworten.
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